5. - 8. September 2002
 
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Dr. Helmut F. Kaplan, Zur Gewaltfrage in der Tierrechtsbewegung

Vortrag am Tierrechtskongress in Wien am 8. 9. 2002

"Am 28. Februar entkam eine Kuh aus einem Schlachthof ... und floh in Panik in ein Autohaus. Die Kuh war so verzweifelt, daß sie durch eine geschlossene Scheibe in den Verkaufsraum gerannt kam. Die Kuh konnte dann nicht mehr weiter, zerschlug noch einige Scheiben, und wurde dann von einem Tierarzt mit einem Betäubungspfeil angeschossen. Danach kam sie zurück in den Schlachthof."
Information aus dem Internet (1)

"Die Machthaber sind immer für Gewaltlosigkeit." det
Max Frisch (2)

Das Thema Gewalt ist eine ebenso wichtige wie schwierige Frage im Rahmen der Tierrechtsbewegung. Deshalb ist hier auch nichts schädlicher als verschwommene Gedanken und Gefühle. Im folgenden möchte ich deshalb einen Beitrag zu einer differenzierteren und rationaleren Diskussion über dieses Thema leisten.

Dazu bedarf es zunächst einmal der Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von Gewalt: Gewalt gegen Personen oder Gewalt gegen Sachen? Und bei Gewalt gegen Sachen: Gewalt gegen welche Sachen? Schließlich ist es ein Unterschied, ob ich einen Panzerwagen zerstöre oder einen Krankenwagen, ob ich die Ausrüstung eines Arztes kaputtmache oder die eines Einbrechers.

Und: Wer die Gleisanlagen nach Auschwitz zerstört hätte, hätte auch Gewalt ausgeübt. Damit sind wir schon bei einem zentralen Punkt: bei Motivation und Zielsetzung von Gewalt. Niemand in der Tierrechtsbewegung wird Gewalt um der Gewalt willen anwenden. Vielmehr geht es immer und ausschließlich um die Verhinderung oder Beendigung von Leiden. Das kann gar nicht oft und deutlich genug gesagt werden: Es geht um die Verhinderung oder Beendigung des Leidens von absolut unschuldigen Wesen.

Und um dieses Ziel zu erreichen, kann Gewalt nicht nur zulässig, sondern auch geboten sein. Man denke etwa an die Sklaverei: Sklavenbefreiungen erfolgten immer gegen das Gesetz und oft mit Gewalt. Oder die Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg: Wäre eine Befreiung nicht richtig gewesen - auch mit Gewalt? Besonders deutlich wird die prinzipiell mögliche moralische Legitimität von Gewalt am Beispiel Ex-Jugoslawien: Wäre die gewaltsame Befreiung der Folter-, Vergewaltigungs- und Hinrichtungslager nicht richtig gewesen?

Gewaltverzicht resultiert keineswegs immer aus hehrer, nobler Gesinnung. Gewaltverzicht kann auch Ausdruck von Feigheit, Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit sein.

Im Zusammenhang mit der Tierrechtsbewegung wird die Gewaltfrage oft besonders verzerrt wahrgenommen und dargestellt. Es wird so getan, als hätten wir eine friedliche Situation und als ginge es darum, ob jetzt dieser Friede von bösen, militanten Tierrechtlern gestört wird.

In Wirklichkeit ist die Sache doch völlig anders: Es herrscht überhaupt kein Frieden! Vielmehr herrscht auf der ganzen Welt ein permanenter Krieg, ein Krieg gegen Tiere. Wir haben die ganze Erde buchstäblich in eine Hölle verwandelt, in eine Hölle für Tiere. Es gibt buchstäblich keine noch so perverse Phantasie, die wir nicht längst in die Realität umgesetzt hätten: Tierkinder werden vor den Augen ihrer Eltern abgeschlachtet, vegetarisch lebende Tiere werden gezwungen, ihre Verwandten aufzuessen, Katzen werden die Augen zugenäht, Affen wird der Kopf abgesägt, Hunde werden bei lebendigem Leib verbrannt und so weiter und so fort. Es gibt buchstäblich keine Grausamkeit, die wir Tieren nicht zufügen. Und: Die ganze Erde ist übersät mit Tierfabriken und Schlachthäusern, in denen ununterbrochen, Tag und Nacht absolut unschuldige, leidensfähige Wesen bestialisch gequält und bei vollem Bewußtsein umgebracht werden.

Während in der Tierrechtsbewegung also über Gewalt diskutiert wird, ist die Gewalt auf seiten der Tierausbeuter längst tägliche Realität !
Die Frage lautet daher auch nicht: Wann beginnen Tierrechtler mit der Gewalt? Sondern: Wann reagieren Tierrechtler auf die vorhandene Gewalt?

Ich möchte nun auf einen zentralen Aspekt im Zusammenhang mit dem Thema Gewalt eingehen, der bis jetzt kaum wahrgenommen worden ist: Seit einigen Jahren gibt es in der politischen Ethik eine hochinteressante Entwicklung. Geographische Stichworte dazu sind Ex-Jugoslawien, Bosnien und Srebrenica. Personale Stichworte dazu sind Joschka Fischer, Jürgen Habermas und Kofi Annan. Es handelt sich um eine doppelte Tendenz:

  • Aufwertung der Menschenrechte gegenüber anderen Rechtsgütern.
  • Abgehen vom Prinzip der Gewaltfreiheit, wenn dies notwendig ist, um Menschenrechte zu schützen: Wenn Menschen irgendwo eingesperrt, gefährdet, bedroht sind, dann ist es unsere moralische Pflicht, ihnen zu Hilfe zu kommen, sie zu befreien, wenn nötig, auch mit Gewalt. (3)

Dazu zwei Zitate:

"Nationalstaatliche Souveränität darf nicht von denen als Schild benutzt werden, die die Rechte und das Leben ihrer Mitmenschen willkürlich gefährden. Angesichts von Massenmord ist bewaffnetes Eingreifen ... eine Option, die nicht preisgegeben werden darf."
Kofi Annan (4)

"Solidarität und Gewaltfreiheit stehen zueinander in einem Spannungsverhältnis, weil im Falle der Solidarität mit Angegriffenen auch Hilfe durch Gegengewalt gegenüber dem Aggressor erwartet werden kann."
Aus dem Entwurf zum neuen Parteiprogramm der österreichischen Grünen (5)

Mit anderen Worten: Die Solidarität mit den Opfern beinhaltet auch, ihnen, wenn nötig, unter Anwendung von Gewalt zu Hilfe zu kommen.

Nun liegt es auf der Hand, daß diese Entwicklung in der politischen Ethik, diese Denkfigur, für die Tierrechtsbewegung allgemein und für Tierbefreiungen im besonderen von immenser Bedeutung ist: Wenn man bedrohte Menschen nötigenfalls gewaltsam befreien muß, dann muß man auch bedrohte Tiere nötigenfalls gewaltsam befreien!
Jetzt werden natürlich einige aufschreien und sagen: Ja, Moment: Was für Menschen und Menschenrechte gilt, gilt für Tiere und Tierrechte noch lange nicht! Für Tierrechtler ist dieser Einwand natürlich völlig gegenstandslos, weil es für Tierrechtler eine Selbstverständlichkeit ist, ja die Selbstverständlichkeit schlechthin ist, daß es analog zu Menschenrechten auch Tierrechte gibt.
Über die Existenz von Tierrechten braucht auf einem Tierrechtskongreß ebensowenig diskutiert zu werden, wie auf einem Menschenrechtskongreß über die Existenz von Menschenrechten diskutiert wird. Auf Menschenrechtskongressen geht es ja auch nie um die Frage, ob es Menschenrechte gibt, sondern ausschließlich um die Frage, wie Menschenrechte möglichst effizient und nachhaltig gefördert und geschützt werden können.
Dennoch möchte ich hier am Rand, als Fleißaufgabe sozusagen, noch einmal zwei Gründe dafür in Erinnerung rufen, warum es selbstverständlich auch Tierrechte gibt - und warum daher alle Argumente, die für eine gewaltsame Befreiung von bedrohten Menschen sprechen, auch für eine gewaltsame Befreiung von bedrohten Tieren sprechen.

Zwei Gründe also für die Existenz von Tierrechten:

  1. eine spezielle Eigenschaft der Tiere;
  2. eine allgemeine Tatsache im Zusammenhang mit Menschen und Tieren.

ad 1) Die spezielle Eigenschaft der Tiere, die Tierrechte begründet, ist die Leidensfähigkeit der Tiere. Jeremy Bentham hat schon vor über 200 Jahren in bezug auf Tiere den mittlerweile berühmten Satz geprägt: Die Frage ist nicht: können sie denken?, oder: können sie sprechen?, sondern: können sie leiden? Die Leidensfähigkeit ist die moralisch herausragende und bedeutsame Eigenschaft der Tiere.

ad 2) Bei der allgemeinen Tatsache im Zusammenhang mit Menschen und Tieren, die Tierrechte begründet, geht es um folgendes: >>> PO Moralisch relevante Merkmale, ersten 3 Absätze

Das Argument für Tierrechte ist unglaublich stark. Schon heute befinden sich diejenigen, die gleichzeitig für Menschenrechte und gegen Tierrechte zu argumentieren versuchen, auf völlig verlorenem Posten. Ihre Argumentierversuche sind ebenso verzweifelt wie vergeblich. Das wird besonders deutlich beim Versuch, Tierversuche ethisch zu rechtfertigen. Den Tierversuchsbefürwortern bleiben letztlich nur zwei Ausflüchte: blanker Zynismus nach dem Motto: "Tierversuche sind zwar ethisch nicht zu rechtfertigen, aber wir machen sie trotzdem" oder Zuflucht zu irrationalen Positionen sowie religiösen oder anderen Dogmen, etwa "Machet euch die Erde untertan!"

Aber wir leben in einer pluralistischen, säkularen Gesellschaft und da zählen am Ende rational nachvollziehbare Argumente. Deshalb werden sich Tierrechte im Laufe der Zeit durchsetzen, so wie sich auch Menschenrechte im Laufe der Zeit durchgesetzt haben.

Und jetzt kommen wir zu einem ganz entscheidenden Punkt: Wir müssen schon heute so handeln, als hätten sich Tierrechte bereits allgemein durchgesetzt:

  • Erstens weil wir moralisch im Recht sind,
  • zweitens weil wir es den Tieren schuldig sind, und
  • drittens weil dieser aktionistische Vorgriff auf ein zukünftiges allgemeines moralisches Bewußtsein notwendig ist, um eben dieses Bewußtsein zu schaffen.

Jürgen Habermas hat diesen Zusammenhang in bezug auf die Menschenrechte so formuliert: Die Menschenrechtspolitik ist "angesichts des unterinstitutionalisierten Weltbürgerrechts zum ... Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand (genötigt), den sie zugleich befördern will." (6)

Das heißt: Wir dürfen nicht statisch-gegenwartsbezogen denken und handeln - so sind heute die Gesetze, also dürfen wir heute nur so handeln. Vielmehr müssen wir dynamisch-zukunftsbezogen denken und handeln - wir müssen schon heute so handeln, als hätten wir bereits die Gesetze von morgen.
Mit anderen Worten: Entscheidend im Zusammenhang mit der Gewaltfrage in der Tierrechtsbewegung ist die historische Perspektive!

>>> PO Gewalt: Hisorische Perspektive,
>>> PO Gewalt: Historische Umbruchphase

Das heißt: Wir müssen uns klar darüber werden, und wir müssen vor allem anderen klar machen, daß es hier nicht primär um den Buchstaben des Gesetzes geht, schon gar nicht um den Buchstaben des gegenwärtigen Gesetzes, sondern um die historische Perspektive und um die historische Entwicklung.
Wer recht hat, genauer: wer recht bekommen wird, kann heute mit Sicherheit niemand sagen. Das entscheidet die Geschichte. Das war bei der Sklaverei auch so. Zuerst war sie erlaubt, dann wurde sie verboten, dann haben diejenigen recht bekommen, die sich für Menschenrechte engagiert haben.
Und genauso wird es bei Tierrechten sein. Untrügliches Indiz dafür sind nicht zuletzt Veranstaltungen wie diese. Denn Tierrechtskongresse sind ja keine singulären, isolierten Ereignisse, sondern Symptome für eine gesellschaftliche Entwicklung.
Und wir haben die Verpflichtung, alles zu tun, damit diese gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Tierrechte so rasch als möglich voranschreitet. Und das geht nur, wenn wir miteinander und nicht gegeneinander kämpfen. Deshalb darf es für die Beurteilung darüber, ob etwas für die Tierrechtsbewegung positiv ist, nur ein einziges Kriterium geben: Bringt es eine Bewegung in die richtige Richtung: ja oder nein? Das gilt für Personen wie für Programme. Und wenn etwas einen Schritt in die richtige Richtung bedeutet, dann muß es unterstützt werden - bzw. darf zumindest nicht bekämpft werden.

Ganz konkret: Wenn jemand, der bis jetzt 20 % vegane Lebensmittel gegessen hat, nunmehr 40 % vegane Lebensmittel ißt, so ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn ein Fleischesser zum Vegetarier wird, so ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn ein Fleischesser, der bis jetzt 10 Wurstsemmeln in der Woche gegessen hat, nur mehr 5 ißt, so ist das ein Fortschritt. Und wenn ein Mensch, der bis jetzt überhaupt nicht über Tierrechte nachgedacht hat, nun beginnt, über Tierrechte nachzudenken, dann ist das ein Schritt in die richtige Richtung!
Und noch etwas. Meiden wir die weltanschaulichen Nebenschauplätze. Denn den Tieren ist es egal, ob sie von einem Kapitalistien befreit werden oder von einem Kommunisten oder von einem Katholiken oder von einem Atheisten.

Mit anderen Worten: Hören wir auf mit den kindischen, kleinkarierten Kleinkriegen, die immer darauf beruhen, daß wir von allen anderen immer genau das verlangen, was wir selber gerade für richtig halten. Vergessend, daß wir selbst eine lange, vielleicht eine jahrzehntelange Entwicklung hinter uns haben, die uns dahin geführt hat, wo wir heute stehen. Und vergessend, daß wir vor ein paar Jahren oder vor ein paar Monaten vielleicht auch nicht so viele Heiligenscheine auf dem Kopf hatten wie jetzt.


(1) TR-Tierrechtsnachrichten-Austria, 1. 3. 2002.
(2) In einem Interview, ausgestrahlt auf 3sat am 3. oder 4. April 2001.
(3) Quellen für diese doppelte Tendenz sowie für geographische und personale Stichworte: SK Strategien: Einträge: So werden Eroberer ermuntert, Das wäre blutiger Zynismus, Gefeiert oder gefoltert, Ein Abgrund von Trauer, Broder, H. M.: Die schöne ..., Habermas, J.: Bestialität und ..., Einladung zum Mißbrauch.
(4) Mission Impossible, Der Spiegel, 43, 2000, S. 178.
(5) (Profil, 14, 2001, S. 49)
(6) Jürgen Habermas: Bestialität und Humanität - Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, Die Zeit, 18, 1999, S. 7.