
Eleonore DeFelip
Das Werk von Franz Kafka (1883-1924) ist dicht mit Tieren und rätselhaften hybriden Kreaturen besiedelt, die schon immer die Leserschaft fasziniert haben. In ihnen reflektiert der Autor das Wissen seiner Zeit über Tiere (Evolutionstheorie, Biologie, Zoologie) und hinterfragt die in Tierexperimenten aufgestellten Versuchsanordnungen. Gleichzeitig nimmt er hier auf der bildlichen Ebene Fragen vorweg, die erst Generationen später, im Zuge der Animal Studies, aktuell werden sollten. Auf hellsichtige und für seine Zeit revolutionäre Weise stellt Kafkas die Grenze zwischen Mensch und Tier sowie den Umgang des Menschen mit Tieren in Frage.
Im Fokus des Vortrags stehen vier Erzählungen von Kafka und die Fragen, die sie jeweils aufwerfen: Ein Bericht für die Akademie
erzählt von der Menschwerdung des Primaten Rotpeter, zugleich davon, wie fragwürdig eine solche Entwicklung ist. In Die Verwandlung
wird der Protagonist über Nacht zu einem Kerbtier: er wechselt vom Status eines Menschen zu dem eines Schädlings, womit er seine Existenzberechtigung verliert. In Erinnerungen an die Kaldabahn
kämpft der Erzähler gegen zahllose Ratten; völlig erschöpft erkrankt er am Ende an einem gefährlichen Wolfshusten, womit sein Tier-Werden auch physisch deutlich wird. Das sog. Elbersfeld-Fragment
entwirft schließlich ein Experiment, das von einem Menschen an einem Pferd vollzogen wird, um die Wesensverwandtschaft von Tier und Mensch zu beweisen.
Kafkas Tiergeschichten sind geistige Experimente: sie inszenieren Prozesse der Verwandlung und Möglichkeiten des Seins, indem sie historisch gewachsene hierarchische Strukturen auf die Spitze treiben und dadurch ad absurdum führen.
Eleonore De Felip (*1967) studierte Germanistik und Klassische Philologie an den Universitäten Wien und Innsbruck. Sie arbeitet als Senior Scientist am Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind zeitgenössische Literatur, insbesondere Lyrik, Konzepte poetischer Intensität und Literary Animal Studies.